Hermann Leskien Von der Notwendigkeit der Differenzierung Ausgangslage Der elfte Redner hat es schwer, zumal wenn er der letzte ist, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und etwas Neues zu sagen. Lücken sind naturgemäß wenige gelassen, und wenn, dann kennzeichnen sie in der Regel Untiefen, die zu orten unklug wäre. Denn es kann sich eigentlich nur um Abgründe handeln, wenn zehn Fachleute zuvor diese Aspekte mieden. Diese Konstellation war leicht vorherzusehen, und so habe ich mich darauf eingestellt, meine Thesen quer zur gesamten Thematik aufzubauen. In meinem Verständnis wird die gegenwärtige Diskussion um elektronische Medien überwiegend grundsätzlich geführt. Elementare Grundpositionen rücken dadurch in den Vordergrund. Die Autoren stehen den Verlagen, diese den Bibliotheken gegenüber. Bei näherem Hinsehen sind die Realitäten allerdings feiner differenziert, wenn auch - in sich betrachtet - nicht minder grundsätzlich; in dem Sinn nämlich, daß die neue Technologie mit den Ur-Bedürfnissen der Informationssuchenden in Einklang zu bringen ist. Ad fontes also. Denn der wirkliche Informationsbedarf läßt sich aus den heutigen Gewohnheiten keineswegs angemessen ablesen. Sie sind zu sehr durch die Dominanz von Buch und Zeitschrift sowie die Anpassung der Informationsgewohnheiten an diese Medien geprägt. Es handelt sich also um den sachimmanenten Bedarf, den wir ins Visier nehmen müssen und von dem wir - zugegeben - keineswegs immer verläßliche Beschreibungen haben. Mein Blickwinkel kommt entsprechend aus zwei Perspektiven: * Wie verändert sich die Problematik, wenn wir die Szenerie stärker differenziert betrachten? * Was ergibt sich daraus für die künftigen Aktionsfelder, für die nächsten Schritte? These 1 Aktualitätsgrad, Umfang und Art der Information sowie präferiertes Medium wechseln von Fach zu Fach, von Gruppe zu Gruppe, von Zweck zu Zweck. Fachwissenschaftler haben andere Informationsbedürfnisse als Studenten, diese wiederum andere als Fachfremde oder in der Praxis stehende Hochschulabsolventen. Der Informationsmarkt ist also keineswegs einheitlich, vielmehr handelt es sich um ein buntes Muster unterschiedlich strukturierter Märkte, auf denen die einzelnen qualitativen Komponenten zudem quantitativ in unterschiedlicher Zahl oder in unterschiedlichem Anteil wirksam sind. Zur besseren Anschaulichkeit mögen einige triviale Gegensätze dienen. Fachwissenschaftler streben auf ihrem Forschungsgebiet nach Vollständigkeit und hoher Aktualität der Information, Studenten begnügen sich mit einem Überblick über das, was allgemein anerkannt und relevant ist. Im Fach Chemie mit seiner Internationalität und seiner eindeutigen Formelsprache ist ein weltweiter und zugleich großer Markt gegeben; die einzelne Informationseinheit ist klein, ihre Menge pro Jahr indessen gigantisch. Anders sieht es beim Kunsthistoriker aus, der sich der Erforschung des bayerischen Rokoko widmet. Sein Arbeitsgebiet ist von regionalem Interesse, es dominieren umfangreiche Werke mit Text- und Bildmaterial, die Zahl der interessierten Kollegen ist klein - es kommt jedoch der gebildete Bürger als Kunde hinzu - die Nomenklatur ist nicht genormt. Eine weitere Ebene liegt auch im Zweck, dem die Information dient. Aus der Lesepsychologie wissen wir, daß die Informationsaufnahme je nach Aufgabenstellung sehr unterschiedlich erfolgt: Punktuelles Nachschlagen vollzieht sich anders als das Lesen eines Gedichtes, dieses wiederum anders als das Lernen eines Stoffes oder die vergleichende kontextuelle Betrachtung. Digitalisierung beschert uns nun die Freiheit, das Medium zu wählen, das jeweils am besten geeignet ist. Und langfristig wird sich wohl genau dort der Erfolg einstellen, wo es gelingt, fachimmanenten, gruppen- und zweckspezifischen Bedarf mit dem optimalen Medium zu bedienen. Hier ist noch sehr viel Arbeit zu leisten. Diese Aufgabe ist so groß und komplex, daß wir uns ihr nur gemeinsam widmen sollten: Fachwissenschaftler, Psychologen, Informatiker, Verlage, Bibliotheken usw. miteinander. Pragmatische Ansätze sind dabei gefragt. Denn diese Fragen sind nicht philosophisch-systematisch, nicht durch bloße Übertragung des Bisherigen auf die neuen Möglichkeiten zu lösen, sondern nur mehr oder minder analytisch oder experimentell. These 2 Während sich substitutive Produkte am einschlägigen Markt behaupten müssen und bestehende Märkte verändern, entstehen bei innovativen Produkten gänzlich neue Märkte. Ferner wird es Märkte geben, an denen Verlage gar nicht interessiert sind. Es ist eine Binsenweisheit, daß Auflagen unterschiedlich hoch kalkuliert werden. Rein substitutive Produkte, wie z.B. Nachschlagewerke oder Zeitschriften, werden Teile der Druckproduktion oder gelegentlich gar die gesamte Druckproduktion ersetzen. Bei großen Märkten findet somit eine Verdrängung statt, auf die sich - unreflektiert - im allgemeinen das Hauptaugenmerk oder das gesamte Augenmerk richtet. Erkenntnisse aus einer derartig simplen Betrachtung eignen sich jedoch nicht zur Übertragung auf anders gelagerte Fälle mit abweichenden Fallzahlen. So werden etwa die sehr kleinen Märkte, die bisher vom grauen Schrifttum dominiert wurden und an denen Verlage daher wenig Interesse hatten, vielleicht völlig in elektronische Form übergehen und von Autoren sowie wissenschaftlichen Einrichtungen dominiert werden. Es wird aber auch neue Märkte geben, insbesondere wenn man an Multimedia, Bildinformationen oder Konversionen von Druckwerken denkt. Schließlich ist festzustellen, daß es für verschiedenene Produkte zwar Bedarf gibt, aber keinen Markt im engeren Sinn, weil es sich um Individualfälle handelt. Macht es unter diesem Aspekt Sinn, z.B. die Publikationstätigkeit von Bibliotheken grundsätzlich als unakzeptabel zu werten? Auch wenn nur daran gedacht ist - und so sollte es sein -, daß von der öffentlichen Hand unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips keine Aufgaben wahrgenommen werden, die besser von Wirtschaftsunternehmen erfüllbar sind? Oder weiter gefragt: Verlieren die grundsätzlichen Kämpfe um Positionen nicht entscheidend an Bedeutung, wenn man die Fragestellung feiner differenziert und wenn gleichzeitig unbestellte neue Felder ausgewiesen werden? Verstellen Grabenkämpfe nicht vielmehr den Blick für die wirklichen Probleme und für die eigentlichen Realitäten? These 3 Das Umschmieden der Publikationskette ist nicht gleichbedeutend mit der Eliminierung einzelner Kettenglieder, wohl aber mit Anpassung und Wandel. Die Digitalisierung der Information vom Autor bis zum Leser bringt es zwar mit sich, daß die Publikationskette als geschlossenes System grundsätzlich zur Dispositon steht. Das bedeutet jedoch keineswegs einen völligen Funktionsverlust der bisherigen Leistungsträger. Ausgehend von ihren traditionellen Stärken werden Autoren, Verlage, Händler und Bibliotheken ihre Rollen indessen zu überdenken haben. Existenzangst erhält nur beim Beharren auf unverändertem Rollenspiel einen Nährboden. Die klassischen Aufgaben der Selektion, "Kanonisierung" und Ordnung durch Verlage bzw. Bibliotheken erfahren in einer Zeit der Informationsüberflutung sogar eine Renaissance. Unverändert werden Autoren aus Eigeninteresse danach streben, ihre Arbeitsergebnisse in allseits anerkannten Organen zu publizieren; sie stellen eben ein Gütesiegel dar. Und es ist ein Unterschied für Ansehen wie Karriere eines Wissenschaftlers, ob es ihr oder ihm gelingt, die eigenen Erkenntnisse über die Hürde eines renommierten Herausgebergremiums, eines Verlages und eines Lesermarktes zu bringen, oder ob die Informationen lediglich unzensiert in das Internet eingeleitet werden. Bibliotheken garantieren freien Zugang zur Information durch Bereitstellung, Vermittlung und Beratung. Sie werden stärker als bisher untereinander in Wettbewerb geraten. (Verlage sind diese Konstellation schon immer gewöhnt.) Denn der lokale Vorteil von Bibliotheken reduziert sich im elektronischen Zeitalter, in dem der Raum ohne Zeitverlust überbrückt werden kann, drastisch. Bibliotheksleistungen können daher auch über große Entfernungen angeboten werden. Ansätze dazu kennen wir schon aus der jüngeren Vergangenheit, am besten am Beispiel der British Library, die in Boston Spa ihre Dienste weltweit erfolgreich absetzt. Aber auch neue Koalitionen werden möglich und sogar notwendig sein, insbesondere zwischen Verlagen und Bibliotheken, während neue Funktionsträger wie Rechenzentren oder Softwarehäuser hinzutreten dürften. Flexibilität des Rollenspiels ist der eine Grund dafür, die Übernahme neuer Aufgaben - so z.B. die Langzeitsicherung und die Konvertierungsaufgaben - ein anderer. These 4 Der Zeitpunkt der Leistung differenziert den Informationsmarkt. Schon bisher waren die Marktbeteiligten sehr ungleich in die einzelnen Phasen der Informationsverbreitung involviert. In der Phase des Vormarktes, der im wesentlichen durch Preprints repräsentiert wird, spielten Verlage, Buchhandel und Bibliotheken eigentlich keine Rolle. So läßt sich vermuten: Wenn in der Vergangenheit keine entsprechende Positionierung gelang, so werden auch die digitalen Möglichkeiten kaum zu einer zugunsten von Vermittlern führen. In der Hauptphase des Vertriebs - den "lieferbaren Büchern" entsprechend - fand bislang das eigentliche Marktgeschehen statt, an dem Verlage, vertreibender Buchhandel und Bibliotheken gleichermaßen beteiligt waren. Schließlich folgte ein Nachmarkt, der durch Verramschen eingeleitet und durch antiquarischen Vertrieb sowie durch die Vorhaltung in Bibliotheken ohne jede Zeitgrenze fortgeführt wurde. Die Differenzierung unter zeitlichem Aspekt macht klar, daß die bloße Übertragung von bisherigen Funktionen auf die Welt der digitalen Information der Problemstellung unmöglich gerecht wird. Änderungen sind auch hier denkbar. Warum sollte nicht eine Bibliothek den Vertrieb von Informationen übernehmen und bis zu einem definierten Zeitpunkt mit Geldrückfluß an den Verlag, danach ohne einen solchen agieren? Darüber hinaus werden völlig neue Aufgaben - insbesondere auf dem Nachmarkt entstehen, etwa in Form von Print-on-demand oder von Konvertierung - für die es weder ein traditionelles Rollenverhalten noch einen Leistungsträger gibt. These 5 Es besteht die Gefahr, daß eine neue Pauschalierung heraufbeschworen wird, die nicht undifferenziert stehenbleiben darf: Medienbrüche sind zu vermeiden und aufzulösen. Meine fünfte These entspringt einem Eindruck dieses Symposions. Bei differenzierter Betrachtung ergibt sich nämlich ein Zielkonflikt. Denn auf der einen Seite streben wir ein Medium für alles an, wir wissen aber auf der anderen Seite, daß es von jeder Information unterschiedliche Ausgabeformen geben wird und daß in der Regel nur eine davon unter dem Gesichtspunkt der Zweckoptimierung angemessen ist. Ich könnte mir beispielsweise vorstellen, daß ein Archäologe, der vom Vergleich lebt, besser mit mehreren aufgeschlagenen Druckwerken hantieren kann als mit verschiedenen Fenstern auf dem Bildschirm, die den gleichzeitigen Blick auf verschiedene Objekte geradezu verhindern denn befördern. Ungeachtet dessen wird er die Novitäten seines Faches bequemer und aktueller in einer Datenbank finden. Mir scheint es ferner absolut realistisch zu sein, daß wir Medienbrüche auf Jahrzehnte hinaus nicht aufheben können, auch wenn wir es wollen. Denn die Menge der Information, die nachträglich zu konvertieren ist, übersteigt nicht nur gegenwärtig, sondern zumindest mittelfristig alle unsere Kapazitäten. Aus beiden Erkenntnissen folgt eine neue Strategie: Was ist in jenen Fällen zu tun, wo Medienbrüche zweckmäßig oder zumindest temporär unvermeidlich sind? Aus dem Ziel, Medienbrüche zu beseitigen, wird das neue Ziel, mit Medienbrüchen ergonomisch umzugehen, sie angemessen zu managen. Die Konzentration auf das Ideal des einheitlichen Mediums birgt noch eine andere Gefahr, im wahrsten Sinn eine Gefahr der Oberflächlichkeit. Denn Medienbrüche zeigen zunächst nur oberflächliche, formale Unterschiede an. Darunter liegen die Formatbrüche von Datenerfassung und Datenhaltung, die Konzeptionsbrüche der Datenaufbereitung, ja des gesamten Datenmanagements. Was kommt also auf uns zu, wenn wir den Medienbruch überwunden haben? Wir werden Daten finden, die nicht unmittelbar miteinander zu vergleichen sind, weil sie verschiedenen Regeln, Formaten und Strukturen gehorchen. Am Beispiel der CD-ROMs etwa wird man dies in Kürze wieder einmal ablesen können. Die CDs der nächsten Jahre werden anders aussehen als die heutigen, die Konzepte der Datenaufbereitung werden sich unweigerlich ebenfalls ändern. Die Frage heißt also: Wie sind die Brüche unterhalb des Medienbruchs zu überbrücken? Neue Probleme werden aufgeworfen; sie erfordern neue Koalitionen, wenn wir ihnen wirksam begegnen wollen. Folgerungen Nur wenn wir nahe am Markt und nahe am fach-, gruppen- und zweckspezifischen Bedarf operieren und experimentieren, werden wir die optimalen Möglichkeiten der neuen Technologien ermitteln und wirksam einsetzen können. Dies wir einen Gewinn für alle Marktbeteiligten bringen, für den Autor, den Verleger, den Vertrieb, die Bibliotheken. Um den Weg zu erleichtern, sind bestehende Hemmnisse - so schnell es irgend geht - zu beseitigen. Die Errichtung von Schutzzäunen, innerhalb derer wir die alten Rollen weiterspielen können, wird keinesfalls von Nutzen sein, sondern schädlich. Positionen können nur durch Erfahrungsvorsprung unter den neuen Bedingungen gesichert oder geschaffen werden. Das amerikanische White Paper "Intellectual Property and the National Information Infrastructure" vom September dieses Jahres erkennt die Notwendigkeit strategisch klar und fordert, insbesondere die Hemmnisse beim Copyright zu beseitigen. Den Amerikanern ist voll bewußt, daß hier eine große Chance für sie liegt, auf dem Weltmarkt eine beherrschende Rolle zu spielen, wenn die Startbedingungen in ihrem Land besser sind als anderswo. Angesichts dessen ist der Kampf um vermeintlich unverzichtbare Grundpositionen nicht ungefährlich, zumal einige davon sich als Kampf um Scheinprobleme entlarven lassen. Die Globalisierung des Marktes könnte während der Zeit der Grabenkämpfe zum Positionsverlust deutscher Publikationstätigkeit führen. Denn der Informationsmarkt ist ein Weltmarkt, mehr denn je. Und wenn wir in Deutschland nicht offensiv an die Probleme herangehen, können andere Nationen, voran die USA, unsere Arbeit durchaus mit übernehmen. Auf dem globalen Markt ist dies technisch kein Problem. Die Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland legt uns die Lösung dieser Aufgaben im eigenen Interesse nahe - mit veränderten Rollen und gegebenenfalls auch neuen Partnerschaften.