Elmar Mittler Die Rolle der Bibliothek Um die klassische Rolle der modernen wissenschaftlichen Bibliothek zu charakterisieren, können Goethes Erfahrungen aus dem Jahre 1801 dienen, die er in der Universitätsbibliothek Göttingen machte: Goethe arbeitete damals intensiv an naturwissenschaftlichen Problemen, insbesondere der Farbenlehre. Lesen wir seinen Bericht: "Ich hatte ein Verzeichniß aller Bücher und Schriften mitgebracht, deren ich bisher nicht habhaft werden konnte; ich übergab solches dem Herrn Professor Reuß und erfuhr von ihm so wie von allen übrigen Angestellten die entschiedenste Beihilfe. Nicht allein ward mir was ich aufgezeichnet hatte vorgelegt, sondern auch gar manches, das mir unbekannt geblieben war, nachgewiesen. Einen großen Theil des Tags vergönnte man mir auf der Bibliothek zuzubringen, viele Werke wurden mir nach Hause gegeben, und so verbrachte ich meine Zeit mit dem größten Nutzen." (Goethe: Tag- und Jahreshefte 1801, WA I 35. S. 106) Goethes Erfolgserlebnis war das Ergebnis systematischer bibliothekarischer Arbeit. Voraussetzung war eine gezielte Erwerbungspolitik, die weltweit die wissenschaftlich relevante Literatur zu entdecken und zu erwerben suchte; ihre Erschließung geschah vor allem unter sachlichen Gesichtspunkten; die systematischen Kataloge und Aufstellung ermöglichten, Zusammengehöriges auch ohne Kenntnis des Titels aufzufinden; der Gebrauchswert der Bibliothek wurde - auch im Falle Goethes - durch liberale Benutzungspraktiken (gute Öffnungszeiten, Ausleihe auch nach außerhalb) erreicht, wobei sich die Problematik aktuelle Benutzung - dauerhaftes Bewahren auch an diesem Beispiel schön zeigen läßt. Die Göttinger hatten immer wieder einige Mühe, die nach Weimar ausgeliehenen Bücher auch wieder zurückzuerhalten - wie Goethe selbst schreibt: "Hier darf ich aber nicht verschweigen, daß diese Werke von der Göttinger Bibliothek, durch die Gunst des edlen Heyne mir zugekommen, dessen nachsichtige Geneigtheit durch viele Jahre mir ununterbrochen zu Theil ward, wenn er gleich öfters wegen verspäteter Zurücksendung mancher bedeutender Werke einen kleinen Unwillen nicht ganz verbarg." (Goethe, Tag- und Jahreshefte 1804, WA, 35. S. 180f.) Erwerben, Erschließen, Benutzen, Bewahren - diese vier klassischen Aufgaben einer Bibliothek haben sich in den vergangenen gut 250 Jahren seit der Gründung der Göttinger Bibliothek in Gleichklang mit den Aufgaben der Verleger und der Buchhändler durchführen lassen. Bibliotheken waren (und sind in hohem Umfang auch heute) stabile Abnehmer wissenschaftlicher Literatur, wichtige Grundlage der Verlagskalkulation wissenschaftlicher Literatur wie der Absatzplanung des wissenschaftlichen Sortiments. Diese "heile Welt" erscheint heute zunehmend nicht mehr in Ordnung. In den 60er und 70er Jahren führte die Bildungs- und Forschungsexpansion zu einer außerordentlichen Erweiterung der Absatzmärkte und einem ungeheuren (Informationsexplosion genannten) Boom der Publikationen. Zunächst gelang es den Bibliotheken, die Erwerbungsquantitäten (sowohl in der Titel- wie in der Stückzahl) wesentlich zu erweitern. Die dadurch wachsende Arbeitsbelastung in Buchbearbeitung und -benutzung suchte man durch die innerbetriebliche Rationalisierung mit Hilfe des lokalen EDV-Einsatzes zu bewältigen. Die weitere Entwicklung ist - ohne daß dies direkt bemerkt wurde - schon weitgehend von der Entwicklung der Elektronik bestimmt. Die Buchproduktion - die ebenfalls in vielen Bereichen teilautomatisiert erfolgte - wurde zunehmend preiswerter; die Bibliotheken begannen, die Katalogisierung in (regionalen) Verbünden zu optimieren; damit entstanden Gesamtkataloge, die auch eine arbeitsteilige Bereitstellung der Literatur im (traditionell in Deutschland schon seit der Jahrhundertwende gut organisierten) Fernleihverkehr erleichterten. Diese Vernetzung der Bibliotheken ermöglicht in Deutschland weiterhin eine wissenschaftliche Literaturversorgung mit gedruckten Publikationen aller Art auf international hohem Niveau trotz sich verstärkender Unterfinanzierung der einzelnen Bibliotheken. Der eigentliche Paradigmenwechsel durch EDV-Einsatz aber kam und kommt nicht von den Bibliotheken sondern von den Wissenschaftlern selbst. Auch sie erlebten die Entwicklung vom EDV-Einsatz zunächst als Arbeitshilfe für Einzelaufgaben. Doch der PC wurde mehr und mehr zum universellen Hilfsmittel, mit dem heute praktisch jeder Wissenschaftler - auch der Historiker oder Theologe - zu arbeiten gezwungen ist. Über die Nutzung elektronischer Medien wie der CD-ROM wird auch den Geisteswissenschaftlern mehr und mehr als Möglichkeit bewußt, was Naturwissenschaftler und Mathematiker schon offen anstreben: es könnte einen Arbeitsplatz geben, an dem alles, was man zur Forschung und zum Publizieren braucht, digitalisiert zur Verfügung steht. Der Kampf gegen den Medienbruch bei der wissenschaftlichen Arbeit - dem dauernden Wechsel zwischen elektronischem und gedrucktem Text - ist von einigen wissenschaftlichen Fachgesellschaften schon bewußt aufgenommen worden. Man will im Zeitalter internationaler Vernetzung, das einem im Prinzip den zeitgleichen Zugriff auf alle digitalen (im Internet vorhandenen) Daten an jedem Ort der Welt ermöglicht, nicht weiter Texte, * die beim Autor als digitale Medien entstehen, * für den Druck in anderer Aufbereitung erneut digitalisiert werden, * über die Kette Verlage, Buchhandlungen, Bibliotheken als gedrucktes Original oder als Kopie verfügbar gemacht werden, erneut für die eigene Arbeit (z.B. beim Zitieren) in digitalisierte Form überführen müssen. Die traditionelle Veröffentlichungskette erscheint nicht zu Unrecht zeitraubend und arbeitsaufwendig, denn jede Umsetzung bedeutet dabei so gut wie eine Verdoppelung der Arbeit. Ein Arbeitsplatz ohne Medienbruch wird in zunehmendem Maße jedem Wissenschaftler - ob er sich dessen derzeit schon bewußt ist oder nicht - als ideale Grundlage wissenschaftlichen Wirkens erscheinen. * Auf Texte, Bilder, aber auch Ton, Formeln, Algorithmen ohne Begrenzung zugreifen zu können, ohne dafür den Arbeitsraum verlassen zu müssen, sind Voraussetzungen wissenschaftlicher Arbeit für praktisch alle Fachgebiete, wie man sie sich besser nicht wünschen kann. Lektüre eines wissenschaftlichen Textes würde an einem derartigen Arbeitsplatz z.B. so ablaufen können, daß ein Zitat sofort über einen Link "angeklickt" und herangeholt werden kann. Die diskursive Arbeit am Text könnte aber jederzeit z.B. durch Nachschlagen in einer CD-ROM-Datenbank oder bei Bedarf auch durch das Absetzen einer Anfrage an einen Kollegen per E-mail ergänzt werden. * So viel ist klar, wo man so arbeiten kann, wird nicht nur der Wissenschaftler subjektiv zufrieden sein; wissenschaftliche Arbeit wird in einem Ausmaß effizienter werden, die jedem Forscher, aber auch jeder Einrichtung und schließlich jedem Land, in dem der Einsatz dieses Instrumentariums gelingt, erhebliche (Konkurrenz-) Vorteile bringt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bleibt der Forschungs- und Kommunikationsarbeitsplatz ohne Medienbruch weitgehend eine Utopie. Er ist es dabei in Deutschland wegen der Mängel und den hohen Kosten bei der Internet-Nutzung noch mehr als anderswo. Aber Engpässe bei der Netznutzung gibt es überall (und wird es auch immer geben). Die Vielzahl der Partner, die Unterschiedlichkeit ihrer Angebote, die Unsicherheit über einen dauerhaften Zugriff, die unklare Authentizität der Texte sind andere negative Aspekte der derzeitigen Kommunikationsstruktur auf den internationale Netzen. Niemand weiß auch, wie die dauerhafte Aufbewahrung digitalisierter Dokumente und ihre permanente Zugänglichkeit gesichert werden sollen. Entscheidendes Hindernis des Arbeitplatzes ohne Medienbruch ist derzeit aber auch, daß nur ein kleiner Teil der wissenschaftlichen Texte in digitaler Form zugänglich ist. Fachgebiete mit besonders kurzer Halbwertzeit der Literaturnutzung, wie z.B. die Biochemie, hätten vielleicht am ehesten die Chance, wesentliche Teile der forschungsrelevanten Literatur wirklich direkt elektronisch zugänglich zu machen. Für die anderen bleibt die Notwendigkeit, ältere, gedruckte Literatur zu "retrodigitalisieren", um sie ohne Medienbruch zugänglich zu machen. Dies geht aber nur, wenn bei der Digitalisierung alten und neuen Materials Bibliotheken und/oder Verlage intensiv mitwirken. Hier aber gibt es ein anderes Hindernis bei der Durchsetzung der digitalisierten Medien. Es sind nicht zuletzt die Ängste der Verleger und Buchhändler ebenso wie die der Bibliothekare vor diesen Medien, die diese Berufsgruppen allerdings wachsender Kritik aktiver Wissenschaftler aussetzt. * Da ist einmal die Angst vor dem Verlust des Buches als des optimalem Lesemediums. Dabei erscheint dieses - betrachtet man die Dinge einmal ganz unvoreingenommen - nicht gefährdet. Das gedruckte Buch, die gedruckte Zeitschrift usw. sind aber heute in der Regel "nur" noch eine Ausgabeform digitaler Medien (die für Hypermedien übrigens nicht mehr ausreichend sein kann). Andererseits wird die gedruckte Ausgabe immer bevorzugt werden, wenn man Texte intensiv bearbeiten will. Das Buch wird bleiben - Fragen der Distribution des Gedruckten allerdings können sich ganz neu stellen. Vieles wird - als Verbrauchsmaterial - nur noch beim Wissenschaftler selbst ausgegeben. Anderes wird möglicherweise in qualitätvoller Weise von einem in der Nähe befindlichen Druckunternehmer von einer Datenbank auf Bestellung gedruckt. Dabei könnten Bücher auch individuellen Bedürfnissen entsprechend zusammengestellt werden: eine Sammlung von Aufsätzen zu bestimmten Themen oder Anlässen (die gesammelten Aufsätze eines Wissenschaftlers oder einer Institution zu einem Jubiläum) o.ä. Daneben wird sicher auch noch das Buch in großer Auflage bleiben. Aber wird es weiter vertrieben wie bisher? Hier sind viele für die Beteiligten bedrängende Fragen noch ohne Antworten, machen Gefahren für das Gegenwärtige aber auch neue Möglichkeiten erkennbar, die es - nicht zuletzt auch gemeinsam durch Verleger, Buchhändler und Bibliothekare - zu überlegen, zu entwickeln und zu erproben gilt. * Noch stärker angstbesetzt erscheinen die finanziellen Aspekte des Einsatzes elektronischer Medien. Die Horrorvision des Verlegers ist der Kauf eines digitalen Werkes durch eine Bibliothek, von der die Texte weltweit - am Ende noch kostenfrei für den Benutzer - im Bedarfsfall jedem Interessenten zur Verfügung gestellt werden. Wissenschaftliches Publizieren auf hohem Niveau wäre damit für Verlage nicht mehr kalkulierbar und damit praktisch unmöglich gemacht, wenn Bibliotheken die Verlagsprodukte sozusagen "verschenken" könnten (übrigens ohne dabei das digitale Original hergeben zu müssen). Doch auch die Bibliothekare haben ihre Angstvision. Sie befürchten, aus der paper- in die pay-per-society zu geraten, wie es ein amerikanischer Kollege schon vor Jahren einmal ausgedrückt hat. In der Praxis könnte das bedeuten, daß für einen Wissenschaftler, der die Links der Zitate eines elektronischen Aufsatzes realisiert und sich die entsprechenden Texte auf den Bildschirm holt, am Ende eine unvorhersehbar große Rechnung zu begleichen wäre, um die darauf liegenden Rechte zu bezahlen. Wissenschaftliches Arbeiten wäre damit in seinen Kosten nicht mehr kalkulierbar, das Führen einer großen Bibliothek mit geregeltem Etat praktisch nicht mehr möglich. Es ist deutlich, daß keine dieser Horrorvisionen Wirklichkeit werden darf; die Wahrscheinlichkeit, daß das geschieht, ist auch gering. Schon die Netzprobleme werden verhindern, daß die Eine-digitale-Kopie-Idee sich verwirklicht. Häufiger Gebrauchtes wird auch im elektronischen Zeitalter mehrfach vorhanden sein müssen - und in vielen Fällen als Druck ebenso wie in digitalisierter Form. * Wie heute der Bezug der Zeitschriften zeigt, sind wissenschaftliche Bibliotheken bereit, den kontinuierlichen Veröffentlichungsprozeß von wissenschaftlichen Texten nicht unerheblich im Voraus mitzufinanzieren: wissenschaftliche Zeitschriften werden in der Regel bezahlt, bevor sie erscheinen. Zeitschriftenabonnements sind daher schon heute eine Art Bezugsrecht für wissenschaftliche Literatur. Ähnliche Finanzierungsformen lassen sich auch für digitale Medien (oder ihre Kombination mit Printmedien) durchaus vorstellen. Es müssen aber Vertriebs- und Abrechnungsformen auch im digitalen Zeitalter gefunden werden, die den freien (und d.h. weitgehend kostenfreien) Zugang für den Wissenschaftler und den akademischen Nachwuchs, unsere Studenten, durch Bibliotheken sichern, ohne daß Verlagspublikationen auf hohem Niveau gefährdet werden. * Um die richtigen Wege zu finden, sind in der gegenwärtigen Situation vor allem viele Experimente, an denen alle Beteiligten, die Spezialisten für die Publikation und ihren Vertrieb (Verleger und Buchhändler), wie die Experten für das Erschließen und das dauerhafte Bereitstellen (die Bibliothekare) sowie die Wissenschaftler (als Produzenten und Konsumenten) beteiligt sein sollten. Um wirtschaftlich tragbar zu sein, bedürfen derartige Experimente, die wesentliche Entwicklungsprojekte für den Aufbau einer leistungsfähigen Informationsinfrastruktur in Deutschland sind, der öffentlichen Unterstützung. * Die Investitionen, die in anderen führenden Industrieländern für die Entwicklung elektronischer Publikationen und Bibliotheken erbracht werden, können dafür durchaus als Vorbilder dienen. Eine Voraussetzung für derartige staatliche Programme ist aber, daß produzierender und vertreibender Buchhandel sowie die Bibliothekare bereit sind, eine Art Burgfrieden in Urheberrechtsfragen elektronischer Medien zu schließen, wie dies in den Niederlanden geschehen ist. Dies schafft die Möglichkeit, für eine gewisse Zeit unterschiedliche Lösungsansätze auch für die Finanzierungsproblematik zu erproben, durch die zukunftsorientierte, tragfähige Lösungen erst gefunden werden können. Diese Kooperation tut auch not, damit wissenschaftliches Forschen, wissenschaftliche Kommunikation und wissenschaftliche Publikation in Deutschland im Zeitalter elektronischer Netze weiter international eine führende Rolle spielen können. Zusammenfassend seien acht Thesen aufgestellt: 1. Das gedruckte Buch und die gedruckte Zeitschrift bleiben weiter die bevorzugten Medien zur intensiven Lektüre wissenschaftlicher Texte. Sie sind aber eine Ausgabeform digitaler Daten, die auch elektronisch zugänglich gemacht werden sollten. 2. Die Entwicklung elektronischer wissenschaftlicher Arbeitsplätze für die Wissenschaftler unterschiedlicher Fachgebiete, die ihnen die Nutzung von Daten, Literatur u.ä. ohne Medienbruch, aber auch Kommunikations- und Publikationsmöglichkeiten bieten, ermöglicht eine wesentliche Beschleunigung und Verbesserung der Arbeit in Forschung, Lehre und Studium. 3. Die Verlage und Bibliotheken in Deutschland sollten durch Bereitstellen der Literatur (auch) in digitalisierter Form dazu beitragen, daß derartiges wissenschaftliches Arbeiten möglichst ohne Medienbruch möglich wird. 4. In den Bibliotheken müssen dazu Erwerbung, Erschließung, Bereitstellung und dauerhafte Sicherung für elektronische Medien genauso selbstverständlich werden wie für gedruckte Literatur. 5. In Kooperation mit Wissenschaftlern und Verlagen sollten die Bibliotheken durch Retrodigitaliserung älterer Bestände von besonderer kultureller und wissenschaftlicher Relevanz deren Zugänglichkeit in elektronischer Form ermöglichen. 6. Entwicklungen im Bereich digitaler Publikationen sind teuer. Sie bedürfen einheitlicher Infrastruktur und gemeinsamer Standards. Wissenschaftler, Verleger, Buchhändler und Bibliothekare sollten dazu noch mehr als bisher in Entwicklungskonsortien zusammenarbeiten. 7. Es sollten dabei unterschiedliche Finanzierungs- und Abrechungsmodelle erprobt und abgestimmt eingeführt werden. Zielsetzung muß sein, daß die wirtschaftliche Basis für das Verlegen auch digitaler Texte gesichert wird, ohne daß der freie Zugriff für Forschung und Information behindert ist. 8. Um den Aufbau einer leistungsfähigen wissenschaftlichen Informationsinfrastruktur zu sichern, sollten (produzierender und vertreibender) Buchhandel mit den Bibliotheken eine Experimentierphase vereinbaren, in der mit öffentlicher Unterstützung digitale Publikationsformen und unterschiedliche Abrechungsformen ohne Präjudizierung urheberrechtlicher Regelungen erprobt werden.