Wolfgang Glatthaar Wissenschaft braucht Kommunikation: wissenschaftliche Kommunikation in einer digitalen Welt Vorbemerkung Ich freue mich über die Einladung, zu einem außerordentlich spannenden Thema einige Gedanken und Erwartungen mit Ihnen austauschen zu können. Für diese Gelegenheit danke ich Ihnen. Zunächst will ich versuchen, aus der Sicht der Informatik die Frage zu beantworten, was erwartet die Wissenschaft von den neuen Medien? Dann werde ich auf einige Fragen eingehen, die sich in diesem Zusammenhang für die Beteiligten ergeben. Dieses Thema ist nicht zuletzt deshalb so spannend, weil die Vielzahl der Auswirkungen gegenwärtig nur schwer und nur in ersten, vagen Ansätzen erkennbar ist. Zum Schluß möchte ich Ihnen dann vorstellen, was die Gesellschaft für Informatik tut, um in der Nutzung digitaler Medien Fortschritte zu erzielen und Erfahrungen zu gewinnen. Was erwartet die Wissenschaft von den digitalen Medien? Alle Zweige der Wissenschaft, d.h. nicht nur die Natur- und Ingenieurwissenschaften, haben von den neuen Medien in überfallartiger Weise Besitz ergriffen. Einige Vorteile sind für jeden so offensichtlich, daß sich die Kunde wie ein Lauffeuer verbreitete und nirgends haltmachte. Sicherlich ist ein Grund für diese, fast an Massenhysterie grenzende Bewegung, eine nicht zu leugnende Unzufriedenheit mit der heutigen Situation. Die neuen Medien, sie sind in aller Munde. Bill Clinton und Al Gore haben sie zum Regierungprogramm gemacht, was die weltweite Aufmerksamkeit noch mehr gesteigert hat. Der Landtag von Baden-Württemberg hat bereits den Abschlußbericht einer Enquetekommission vorliegen, der Bundestag will eine solche Kommission einsetzen. Was ist das genau? Neue Medien? Das sind Hochgeschwindigkeitsnetze, Multimedia und Online-Dienste aller Art. Und eines ist sicher, sie werden alle Lebensbereiche beeinflussen und die globale Wettbewerbssituation verändern. Wissenschaftler versprechen sich davon vor allem eine Beschleunigung des Austauschs von Erkenntnissen und Ergebnissen, und damit eine weitere Beschleunigung des gesamten wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses. Karl-Heinz Hoffmann, der Vorsitzende des Wissenschaftsrats, sagt das so: "Erstmals in der Geschichte ist die ungehemmte Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnis möglich. Daß sich an die Beschleunigung der Kommunikation auch noch Hoffnungen einer Kostensenkung anknüpfen, ist ein angenehmer Nebeneffekt." Wenn der Wissenschaftler selbst die Aufgabe des Verlegers und Archivars übernimmt, beruht ein Teil dieser Kostenreduzierung natürlich auf einer simplen Verlagerung. Diesen Effekt kennen wir ja auch bereits vom Einsatz von PCs in der Industrie. Das ändert jedoch nichts an der generellen Richtung. Die digitalen Medien bringen aber nicht nur graduelle Verbesserungen. Viel entscheidender ist, daß sie ganz neue Informations- und Arbeitsformen erlauben. Diese sind in allen ihren Konsequenzen noch längst nicht ganz verstanden. Ein erster Effekt ist, daß durch die Digitalisierung bisher unverträgliche und isolierte Medien plötzlich miteinander verknüpft werden können. Ich denke an Multimedia. Der Austausch nicht-druckbarer Informationen, also von Sprach-, Geräusch- oder Musikerzeugnissen in Kombination mit Bewegtbildern oder Simulationen, eröffnet neue Möglichkeiten nicht nur für die Lehre. Wissenschaftliche Veröffentlichungen können durch Nutzung von Multimediatechniken wesentlich an Informationsgehalt oder zumindest an Verständlichkeit gewinnen. Bedenkt man weiter die Möglichkeit, digitalisierte Information in Sekundenbruchteilen mit Hochgeschwindigkeitsnetzen über beliebige Entfernungen zu transportieren, so eröffnet dies Wege für nichtortsgebundene Kooperationen in experimentellen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten, für das gemeinsame Diskutieren, für das Erstellen von Publikationen und für vieles mehr. Das Problem des ungleichen oder falschen Orts kann korrigiert werden, wesentlich über das hinaus, was das Telefon für die rein akustische Kommunikation schon erreicht hat. Diese Funktionalität ist eine entscheidende Basis für die entstehende Informationsgesellschaft. Dadurch daß alle Informationen von Rechnern gespeichert und vermittelt werden, kann gleichzeitig das Problem des Mangels - "wo finde ich, was ich brauche?" - wie das des Überflusses -~~~ "wie schütze ich mich vor dem, was ich nicht brauche?" - angegangen und gelöst werden. Digitale Information kann maschinell bearbeitet, d.h. nach individuellen Kriterien erschlossen, bearbeitet, miteinander verknüpft und selektiv verteilt werden. Daß dies eine dauernde Herausforderung darstellt, wo es für jede Lösung immer wieder eine noch bessere gibt, liegt in der Natur der Sache. Dies wird für den Wettbewerb ein entscheidender Faktor sein. Die Gefahr leichter Manipulierbarkeit bringt dies auch mit sich. Ich werde später hierauf noch zu sprechen kommen. Eher für die Geistes- als für die Naturwissenschaften interessant ist der Aspekt, daß mittels elektronischer Medien wertvolle historische Dokumente, die vom Verfall bedroht waren, gerettet oder wieder der Forschung zugänglich gemacht werden können. Beispiele sind die Projekte, welche die IBM mit der Vatikanischen Bibliothek und mit dem Lutherarchiv Wittenberg gemeinsam durchführt. Was bedeutet nun dies alles für die Beteiligten? Die Beteiligten sind Wissenschaftler als Autor und Nutzer, Verlage, Bibliotheken, Buchhandel, Netzbetreiber und Informationsvermittler. Ich gehe davon aus, daß auch im Zeitalter digitaler Medien weiterhin eine sehr arbeitsteilige Form der Erstellung, Verbreitung und Nutzung angemessen sein wird. Es steht für mich außer Zweifel, daß für einige der Beteiligten sich die Aufgaben und Rollen im Vergleich zur Situation bei gedruckten Medien verändern werden. Die Diskussionen über die richtigen Konsequenzen daraus haben begonnen. Über ihre Reaktionen müssen die Beteiligten selbst entscheiden. Ich kann mir wohl vorstellen, daß Verlage weiterhin veröffentlichungswürdige Werke aufspüren und die Interessen der Autoren vertreten; daß sie sich dabei aber keinen einschränkenden Zwang antun bezüglich der Medien - Papier, CD-ROM oder Online - und auch nicht bezüglich der datenverarbeitungstechnischen Formate, in denen die Werke publiziert werden. Die neuen und zum Teil komplexen Verfahren zur Informationssuche und -verbreitung stellen zusätzliche Anforderungen an die Beratungsdienste. Die Bibliotheken werden hier weiterhin ihren Platz haben bei der Unterstützung ihrer Kunden auf der Suche nach Information, bei der Auswahl von Informationsprodukten und bei deren Beschaffung. Das sollte sich auf alle oben erwähnten Medien - Papier, CD-ROM und Online - erstrecken. Auch der Buchhandel wird sich auf die erweiterten Möglichkeiten einstellen müssen. Dazu werden weitere Servicegeber antreten, die ihre Dienste nur im Netz anbieten. Und dies kann und wird ortsunabhängig geschehen. Einige Fragen, die vielerorts diskutiert werden, lassen sich leichter beantworten, wenn man die Interessen und Rollen der Partner im Prozeß der wissenschaftlichen Information und Kommunikation genauer ansieht. Jeder Autor und damit auch jeder Verlag wird Interesse daran haben, daß das von ihm geschaffene oder vermarktete geistige Werk vollen Urheberrechtsschutz genießt. Die leichte Manipulierbarkeit digital gespeicherter Informationen mag manchen dazu verleiten, statt seines Verstandes nur seinen Computer zur Erzeugung einer Veröffentlichung einzusetzen. Meines Erachtens benötigen wir hier zur Gefahrenabwehr keine neuen gesetzlichen Regelungen, sondern primär Mechanismen, die die Verletzung von Rechten offensichtlich machen. Neue Formen der Dokument-Kennzeichnung können hier weiterhelfen. Je mehr Information mittels physikalisch nicht faßbarer Datenträger übermittelt wird, um so wichtiger wird es, dafür adäquate elektronische Abrechnungs- und Zahlungssysteme zu konzipieren und einzuführen. Dieses Problem hat aber nicht nur die wissenschaftliche Information zu lösen. Wir können uns hier Lösungen, die in anderen Wirtschaftsbereichen entwickelt werden, zunutze machen. Von einigen Kollegen wird die Befürchtung geäußert, daß bei elektronischen Medien automatisch ein Qualitätsverlust eintreten muß. Ich möchte nicht alles, was auf Papier gedruckt wird, automatisch mit einem Qualitätssiegel versehen. Tatsache ist, daß bei elektronischen Medien die Möglichkeiten, einen sorgfältigen Gutachterprozeß durchzuführen, wesentlich gestiegen sind und daß es viel leichter ist, das Ergebnis der Begutachtung oder die Kommentare der Leser mit dem ursprünglichen Dokument verbunden zugänglich zu machen. Ein Artikel im Spektrum der Wissenschaft hat die breitere Öffentlichkeit auf ein Problem aufmerksam gemacht, das der Fachwelt nicht neu ist: die "Kurzlebigkeit" elektronisch gespeicherter Informationen. Damit zusammen hängt die Frage der Zitierfähigkeit. Auch wenn dort die Lebensdauer für Magnetbänder viel zu kurz angesetzt ist, bleibt doch die Tatsache, daß die Träger digitaler Informationen wesentlich kürzere Lebenszeiten haben als Papier. Dem Verlust der Daten kann durch verlustfreies Kopieren vorgebeugt werden. Gravierender ist schon, daß die heutige Speicher-Technologie vielleicht in 10 Jahren überholt ist. Digitale Information ist nicht ohne Hilfsmittel lesbar und die Werkzeuge unterliegen einem stetigen technologischen Wandel. Wer kann heute noch eine 78er Schallplatte abspielen? Das schwerwiegendste Problem ist aber die Vielzahl an Datenformaten, die zur Speicherung von Texten, Grafiken, akustischen Informationen und Bewegtbildern verwendet werden. Hier müssen einheitliche Datenformate gefunden werden und vor allem eine für die jeweilige Dokumentklasse verantwortliche Archivierungs-Instanz. Ich sehe hier eine große Chance für die Verlage. Wenn sie - sei es in eigener Verantwortung oder im Verbund mit öffentlichen Bibliotheken - dieses Problem für ihre Produkte lösen, werden sie einen Mehrwert geschaffen haben, den die Wissenschaft nicht ignorieren kann. Bei einigen der angeschnittenen Fragen sind auch die heute verfügbaren technischen Lösungen alles andere als ausgereift. Es ist die Aufgabe der Wissenschaft und vor allem der Informatik, hier laufend nach besseren Lösungen zu suchen. Daß und wie wir uns als Informatiker dieser Aufgabe stellen, will ich Ihnen kurz anhand des Verbundprojekts MeDoc erläutern. Das Verbundprojekt MeDoc Seit September läuft ein vom Bundesminister für Bildung und Forschung gefördertes Verbundvorhaben, das von der Gesellschaft für Informatik (GI), dem Fachinformationszentrum Karlsruhe und dem Springer-Verlag Berlin/Heidelberg geleitet wird. An dem Vorhaben sind außerdem sechs Universitäten und eine Forschungseinrichtung als Forschungspartner beteiligt sowie fünf Universitäten, vier Fachhochschulen und eine Forschungseinrichtung als Pilotanwender. Das Projekt hat den offiziellen Titel: "Entwicklung und Erprobung offener volltextbasierter Informationsdienste für die Informatik". Wir wollen innerhalb von zwei Jahren einen signifikanten Bestand an Informatik-Literatur, technischen Berichten, Büchern und Zeitschriften als elektronische Volltexte am Arbeitsplatz von Wissenschaftlern und Studenten anbieten und die dafür erforderlichen Such-, Zugriffs-, Abrechnungs- und Archivierungsroutinen entwickeln. Die Projektleitung von MeDoc hat damit begonnen, die für die Informatik relevanten Verlage dafür zu gewinnen, Teile ihres Verlagsangebots in das Projekt einzubringen. Die bisherige Reaktion war teilweise etwas zögerlich. Ich kann dies verstehen, möchte die Verleger aber doch bitten, dieses Projekt als große Chance anzusehen, die es ermöglicht, in einem relativ begrenzten Teilgebiet, der wissenschaftlichen Informatik-Literatur, Erfahrungen für die Gestaltung der Zukunft zu sammeln. Die GI und die beiden an der Leitung des Projekts beteiligten Partner sind der festen Überzeugung, daß digitale Medien eine signifikante Rolle in der wissenschaftlichen Information und Kommunikation der Zukunft spielen werden. Mit dieser Einschätzung befinden wir uns in Übereinstimmung mit anderen großen wissenschaftlichen Fachgesellschaften, der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV), der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) und der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh), mit denen wir eine Kooperation bei diesen Planungen und Entwicklungen vereinbart haben. Digitale Medien sind da und werden bleiben. Sie sind nicht alles, aber sie werden sich ausbreiten und wir müssen uns mit ihnen auseinandersetzen. Literatur Brüggemann-Klein, A., Cyranek, G., Endres, A.: Die fachlichen Informations- und Publikationsdienste der Zukunft: eine Initiative der Gesellschaft für Informatik. In: GI/SI-Jahrestagung, Heidelberg: Springer, 1995 Hoffmann, K. H.: Die bibliothekarische Versorgung der Hochschulen im Zeitalter der elektronischen Medien. ABI-Technik, 15 (1995) 2, S. 101-105