Dietrich Götze Die Rolle des Verlags Die unendliche Bibliothek wird vielleicht im nächsten Jahrtausend als virtuelle Welt-Bibliothek Wirklichkeit. Bevor uns diese Wirklichkeit ereilt, müssen wir einen gewaltigen Umbruch, der uns bevorsteht, meistern. Dabei werden sich für alle Beteiligten, d.h. für Wissenschaftler bzw. Autoren, Verlage, Handel, Bibliotheken und Leser mehr oder weniger entscheidende Veränderungen einstellen. Aber man sollte bei allen Versuchen, die Zukunft durch mögliche Scenarien vorstellbar zu machen, nicht übersehen, daß das menschliche Verhalten und Verhaltensvermögen sich in anderen Zeiträumen verändern kann als technische Entwicklungen die Welt verändern. Damit will ich sagen, daß auch alle technischen Veränderungen, wie schnell sie sich auch vollziehen, schließlich unserer Handlungsfähigkeit, Verarbeitungsfähigkeit und Verhaltensfähigkeit angepaßt werden. Entwicklungsprozesse in der Forschung und intellektuelle Methoden der Forschung bestimmen das Verhalten des Forschers. Die Funktionalität, die spezifischen Aufgaben des Verlages - das, was einen Verlag zum Verlag macht, geben ihm seine Daseinsberechtigung. Dabei ist die Form der Medien, in der das Ergebnis in der Öffentlichkeit erscheint, zwar nicht ohne Bedeutung, aber auch nicht vorrangig - sofern die Rahmenbedingungen an die Eigenschaften und Eigenheiten der neuen Technologie angepaßt, und diese mit dem menschlichen Verhalten in Einklang gebracht sind. Was sind die Aufgaben eines Verlages? Es sind sicherlich nicht, wie selbst von vielen wissenschaftlichen Autoren vermutet, Satz und Druck. Maschinen sind in einem Verlagshaus kaum zu finden. Die Arbeit von Verlagen besteht in erster Linie aus einer schöpferischen und einer tutorialen-editorialen Komponente: Am Anfang steht eine Idee, die sich zu einem Konzept verdichtet. Um dieses Konzept zu verwirklichen und mit Inhalt zu füllen, müssen die zugehörigen Sachverhalte aufgespürt werden. Es müssen zu den Sachverhalten Daten gesammelt werden, die erschlossen, aufgearbeitet, geordnet und selektiert werden und schließlich in ihrer Gültigkeit und Korrektheit verifiziert und begutachtet werden müssen und deren rechtmäßige Verwendung sichergestellt werden muß; es ist auch wesentlich zu entscheiden, in welcher Form (Zeitschrift, Monographie, Nachschlagewerk, Atlas, Manual, Lehrbuch, als Datensammlung auf CD-ROM oder als aktueller Informationsdienst online) diese Sachverhalte bzw. Informationen angeboten werden. Es gilt, kompetente Autoren und Herausgeber ausfindig zu machen und sie in das vom Verlag entworfene Konzept eines Programms einzubinden. Sicher werden auch Anregungen und Vorschläge von Autoren aufgegriffen, aber meist nur, wenn sie in das Programmkonzept und in die verlagseigene Wert- und Marktsicht passen. Diese Markteinschätzung erfolgt nicht - oder nicht nur - unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, sondern sie ist in erster Linie eine sachlich-inhaltliche Überlegung, nämlich die Bewertung neuer Erkenntnisse, und die Überzeugung, diese Erkenntnisse einer weiteren Verbreitung zuzuführen. Es sind daher in der Regel auch nicht alle Titel wirtschaftlich profitabel. Gerade beim wissenschaftlichen Publizieren sind neue Erkenntnisse häufig nicht geeignet, eine breite Akzeptanz zu finden oder gar als Ausgangspunkt eigener Forschung von vielen Wissenschaftlern herangezogen zu werden; sie haben also a priori keine wirtschaftliche Potenz. Die Kompetenz der Verlage besteht also darin, den Transfer von "ungehobenem" Wissen vom Autor zum Leser zu ermöglichen, zu unterstützen und zu erleichtern. Dazu kreiert er Hilfsmittel: Layout, Illustrationen, Verweise, etc. und zeigt Zugangswege. Gerade bei elektronischen Publikationen sind die Verleger noch stärker aktiv einbezogen, um durch ihre Erfahrung die besten Technologien für bestimmte Darstellungsformen zu finden. Auf diese technologischen Werkzeuge sind Autor und Leser besonders angewiesen, da die in Bits verschlüsselten Informationen sonst absolut unzugänglich sind. Verlagsprodukte müssen Verbreitung finden: Bücher und Zeitschriften müssen die Aufmerksamkeit des Lesers bzw. Nutzers erreichen: Sie müssen aktiv vom Verlag sichtbar und bekannt gemacht werden, und das weltweit. Noch eine ganze Reihe von Aufgaben müßten an dieser Stelle erwähnt werden, um das Bild des Verlegers vollständig zu zeichnen - nur eine Aufgabe möchte ich hier noch hinzufügen, die uns dann auch in die Mitte der "uns auf den Nägeln" brennenden Probleme des beginnenden elektronischen Publikationszeitalters bringt: All das Wissen und die Inhalte, die wir aufnehmen und verarbeiten und so zu einem für den Leser bzw. Nutzer attraktiven Programm gestalten, sind geistige Schöpfungswerke von Autoren, Herausgebern und Verlagen. Sie stellen zunächst einen immateriellen, aber meistens auch einen kräftigen materiellen Wert dar - und um diesen dem Urheber bzw. Schöpfer zu erhalten und den Schöpfer vor Ausbeutung zu schützen, wurde ein umfassendes nationales und internationales Geflecht von Urheberrechtsvereinbarungen geschaffen, damit die Rechte der Autoren und Verlage (Produzenten) gewahrt bleiben und die Rechteinhaber für ihre intellektuelle Schöpfung eine angemessene Vergütung erhalten. Diese Urheberschutzrechte, die vor über 100 Jahren als Gesetze eingeführt wurden, haben über die Zeit viele Revisionen erfahren, um sie veränderten Umständen in den Produktionsabläufen und Vervielfältigungs- und Verbreitungsmethoden anzupassen. Keine dieser Veränderungen war jedoch so dramatisch, wie der uns bevorstehende Übergang vom Papier in die elektronische Welt. In dieser neuen Welt sind Autoren und Verlage völlig ungeschützt. Schon das bestehende, erst vor 10 Jahren novellierte Urheberrecht in Deutschland hat bei seinen Bestimmungen zum Kopieren eine partielle Enteignung von Autoren und Verlagen gesetzlich sanktioniert. Daraus hat sich eine neue, staatlich subventionierte Kopier-Liefer-Dienst-Industrie in den mit öffentlichen Mitteln unterhaltenen Bibliotheken entwickelt, die Benutzern zwar ihre bibliothekseigenen Unkosten berechnen, für Autoren und Verlage aber keine Vergütung abführen. Die in Zukunft mögliche - und heute schon in Ansätzen vorhandene - Vernetzung dieser computerisierten Dokumentlieferzentralen (Reprint-Verkaufszentralen) in Bibliotheken zeigen dem Nutzer über einen elektronischen Katalog die Bestände, die nach Eingabe in Datenbanken elektronisch vorgehalten werden. So wird ermöglicht, daß Originalwerke nur noch von einer im Verbundnetz teilnehmenden Bibliothek erworben werden, um sie allen Nutzern mit Anschluß an das Verbundnetz zugänglich zu machen. Aufgrund der Urheberrechts-Ausnahmeregelung vom exklusiven Verwertungsrecht des Autors und dem so den Bibliotheken zugestandenen Privileg der kostenlosen Ausleihe und dem kostenlosen Erstellenlassen von Kopien treten die Kopierzentralen der Bibliotheken in zunehmendem Maße mit der Originalpublikation der Verlage in Wettbewerb. Solange die Informationen untrennbar mit einem physischen Träger, dem Papier, verbunden sind und das Ausleihen und Kopieren standortgebunden war, hatten diese Ausnahmen vielleicht eine Berechtigung. Aber von nun an, da alle Arten der Information in einer Form - nämlich elektronisch - verbreitet werden können, und zwar von einem "Original" direkt zu jedem Individuum weltweit und als Ganzes oder in Teilen abgerufen werden können - und dies immer wieder und zu jeder Zeit und von jedem Ort - und sich der Ausdruck nicht mehr vom Original unterscheidet, hebt sich der Gegensatz Original vs. Kopie auf. Dann ist jede Nutzung ein Vervielfältigungsvorgang zu einem Original. Es ist also unbedingt und dringend notwendig, * Vervielfältigung und Verbreitung im Kontext der neuen Welt neu zu definieren (eingeben, speichern, über das Netz verbreiten); * die Urheberrechts-Ausnahmen (Kopieren und Verleihen) im Licht der elektronischen Verfügbarkeit und Verbreitung originaler Werke drastisch einzuschränken oder gar aufzuheben. Aber dies ist noch nicht alles: * Für die Produzenten von Datenbanken und Multimedia-Produkten muß ein Produzentenschutzrecht geschaffen werden. Wenn also das in Jahrhunderten gewachsene und auch in Zukunft notwendige Verlagswesen die Zukunft meistern soll - was auch privat-wirtschaftlich finanzierte Arbeitsplätze schafft bzw. erhält - müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, in deren Grenzen Autoren, Produzenten bzw. Verlage und Vertreiber mit Aussicht auf Erfolg investieren können. Wenn es sich auch in Zukunft, d.h. in einer elektronisch vernetzten Welt, lohnen soll, nützliches Wissen zu erarbeiten und Inhalte für eine weite Verbreitung zu schaffen, müssen Urheberrecht und verwandte Schutzrechte angepaßt und neu gefaßt werden.