Was erwartet die Wissenschaft von den 
digitalen Medien?


Jürgen Mittelstraß
Der wissenschaftliche Verstand
und seine Arbeits- und Informationsformen


Dem wissenschaftlichen Verstand, der mit großem Erfolg immer neue Rätsel löst,
ist es weitgehend immer noch ein Rätsel, wie er zu seinen Einsichten kommt.
Natürlich gibt es blitzblanke Methoden und eingefahrene Forschungswege, und doch
erklären auch diese meist nicht, woher der wissenschaftliche Einfall kommt, wie
man sein Werden befördern könnte und warum er nur allzu oft ausbleibt. Und dies
alles vor dem Hintergrund eines immer perfekteren Informationswesens, das dem
wissenschaftlichen Verstand permanent vor Augen hält, was er schon weiß. Mit den
modernen Informationstechnologien ist hier noch einmal ein Riesenschritt getan,
der manche Forschungs- und Informationsgewohnheiten obsolet erscheinen läßt. Der
Eindruck drängt sich auf, das Informationswesen entwickle sich schneller als das
Forschungswesen, dem es dienen soll.

Im folgenden stichwortartig sechs Wahrnehmungen, die deutlich machen sollen, daß
diese Entwicklung, die informationstechnologisch gesehen einen großen
Fortschritt bedeutet, bezogen auf die Arbeits- und Informationsformen des
wissenschaftlichen Verstandes, nicht ganz unproblematisch ist.

1. Die Zukunft auch der wissenschaftlichen Informationsformen heißt Internet. In
diesem Netz aller Netze sind derzeit 12.000 Netzwerke mit weltweit insgesamt
über 2 Millionen Rechnern miteinander verbunden. Täglich benutzen über 6
Millionen Menschen Internet-Dienste, assistiert von Gopher 
und World Wide Web (WWW), Internet-Diensten, die bei der Suche nach
Informationen in der großen weiten Welt der Netze helfen. Und da ist ferner die
wetterleuchtende Zukunft von Electronic Publishing, vorbereitet und begleitet
durch die runden Bücher, nämlich die elektronischen Bücher auf CD-ROM. Das Ende
des Buches und damit auch der wissenschaftlichen Bibliotheken im uns vertrautem
Sinne scheint unmittelbar bevorzustehen. Man spricht bereits vom Ende des
Gutenberg-Zeitalters.

2. Vor diesem Ende stehen allerdings Probleme, die einerseits (noch) technischer
Art sind, andererseits etwas mit nur schwer umstellbaren wissenschaftlichen
Gewohnheiten zu tun haben. Erstens Probleme der Konvertierbarkeit und der
Kompatibilität. So bedingen unterschiedliche Abspielsysteme unterschiedliche
elektronische Buchversionen bzw. besondere Retrieval-Programme (wie "PaperOut").
Zweitens Probleme der Bedienbarkeit, die die üblichen Probleme gegenüber der
Kulturtechnik des Lesens bei weitem übersteigen: "Wer die computergestützten
Medien heute umfassend nutzen möchte, muß die Internet- und World Wide
Web-Dienste kennen, einen Überblick über die Standards bei Compact Discs
besitzen, mit Datex-J und Videotext vertraut sein, Datenbank- und
Hypermedia-Konzepte kennen und vor allem die entsprechende Software bedienen
können."1 Welche Hürden auf einem Weg, an dessen Ende doch wieder nur das
einfache Lesen stehen soll! Und da sind drittens die mit all dem verbundenen
Probleme wachsender Unüberschaubarkeit angesichts bewährter Arbeitsformen.
Schließlich lassen sich nun mit der CD-ROM-Technik auch Kleinstauflagen
herstellen, die unter normalen "Buchbedingungen" keine wirtschaftliche Chance
hätten. Das heißt: schlechterdings alles, was geschrieben wird (auch in der
Wissenschaft), kann in Zukunft das Marktlicht erblicken, also auch das, was
gnädigerweise besser unpubliziert bliebe. Welche Aussichten für das
schriftstellerische Mittelmaß! Bits und Bytes machen es möglich.

3. Das Buch, d.h. die Papierform der Literatur, ist unter vielen Gesichtspunkten
die für die wissenschaftliche Arbeit noch immer optimale Form, eine "papierlose"
Zukunft der Wissenschaften eine eher bedrückende Utopie. Es geht insofern auch
nicht nur darum, einen ersten Schritt, nämlich die Weiterentwicklung des
wissenschaftlichen Informationswesens, vor dem zweiten Schritt zu tun, der in
eine papierlose und bibliothekslose Zukunft führen könnte, sondern darum, die
Orientierung an bewährten und vernünftigen wissenschaftlichen Arbeitsformen
nicht aufzugeben. Das gilt vor allem für die Geisteswissenschaften. Zu deren
gesundem Konservativismus in Sachen Arbeitsformen, der sich in der Affinität zum
Buch und zu gut ausgestatteten Freihandbeständen geltend macht, gehört auch, daß
die Geisteswissenschaften kein Tun sind, das damit endet, daß man gewonnene
Resultate nach Hause trägt, in Lehrbücher einfügt und als Teil einer
Fortschrittsgeschichte schreibt. So zu verfahren, mag das Wesen der positiven
Wissenschaften sein, nur gehören zu eben diesen die Geisteswissenschaften nicht.
Die Geisteswissenschaften arbeiten nicht am Turm des positiven Wissens mit
seinen zahlreichen Stockwerken Nutzen und Verwertung. Trotzdem sind sie nicht
unnütz. Worüber zumal Naturwissenschaftler gerne lächeln, daß nämlich die
Geisteswissenschaften nie über ihre Klassiker hinauskommen, daß jede Generation
aufs Neue ihre Bücher über Goethe und Platon schreibt, ist in Wahrheit das,
worauf rationale Kulturen wie die unsere nicht verzichten können. Sie verlören,
täten sie es doch, ihre kulturelle Identität und ihr kulturelles Gedächtnis,
ohne die auch der Naturwissenschaftler in unserer Welt nicht leben kann.

4. Mit der üblichen "informationstheoretisch" informierten Annahme über den
Literaturbedarf des Wissenschaftlers stimmt etwas nicht. Diese Annahme besagt,
daß der Wissenschaftler seinen Literaturbedarf genau kennt, daß er weiß, was er
weiß und was er nicht weiß, aber wissen bzw. kennen könnte, weil es andernorts
als Wissen zur Verfügung steht. Faktisch verfügt kein Wissenschaftler über
dieses Wissen, wie auch seine Forschungswege, an den üblichen methodologischen
Erwartungen gemessen, meist reichlich "unwissenschaftlich" aussehen. Überdies
ist - bleiben wir noch einmal beim Geisteswissenschaftler - Forschung, die sich
fest auf den Wegen vorgegebener Methodologien und Techniken hält, z.B.
Literaturlisten, die es abzuarbeiten gilt, im Grunde die langweiligste und meist
auch die unergiebigste. Von diesen Wegen abzuweichen ist daher fast ein Gebot
der Forschung selbst, verbunden mit einer zugegebenermaßen äußerst sublimen Form
des Abenteuers, die sich zumal der Geisteswissenschaftler, in der Opposition von
Natur und Geist asketisch auf der Seite des Geistes angesiedelt, gerade noch
erlaubt - und konstitutionsmäßig häufig auch wohl gerade noch zumuten kann.

5. Es ist vor allem das Moment des Unvorhersehbaren, das die wissenschaftliche
Arbeit - und hier keineswegs nur die Arbeit des Geisteswissenschaftlers -
bestimmt und die Forschung vorantreibt. Also sollte es auch um jeden Preis
erhalten bleiben. Der Geist der Forschung schütze uns vor Techniken, die dieses
Moment zugunsten von in wuchernden Informationsnetzen stets verfügbarer
"vollständiger" Information ausmerzen würden. Mit anderen Worten: Zu denjenigen
Techniken, die oft behindern, was sie doch zu fördern vorgeben, könnte ein
Überangebot an Information gehören. Jeder Wissenschaftler kennt die
Hilflosigkeit, die sich nahezu zwangsläufig einstellt, wenn das, was er sucht,
Dimensionen gewinnt, die unüberschaubar werden. Das gilt auch für die Mittel,
derer man sich bei dieser Suche bedient. Wer ein Buch sucht und eine Bibliothek
findet, wer gleich alles hat, was er allmählich zu finden hoffte, ist erst
einmal und meist noch lange hilflos, sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Gemeint ist, daß eine auf Knopfdruck abrufbare, nicht zu bewältigende
Informationsmenge meist forschungshemmend, nicht forschungsfördernd wirkt: weil
sie nicht auf den gewohnten und unserem Kopf zuträglichen Wegen kommt, weil sie
die menschliche Dimension, die wir auch mit der wissenschaftlichen Arbeit
verbinden, vermissen läßt.

6. Die Entwicklung der Informationstechnologien geht stürmisch voran, doch was
oder wer entwickelt die Köpfe? Schließlich will auch Information wirklich
genutzt, verarbeitet, beherrscht, in Wissen (rück-)verwandelt werden. Was aber,
wenn dies die Köpfe nicht mehr leisten, die Information sich zu Bergen türmt,
vor denen der Kopf immer kleiner wird? Oder räumt Information irgendwann einmal
die Köpfe beiseite? Ist die zukünftige Informationswelt eine Welt voller
Information, aber ohne Subjekte - so wie gelegentlich, im Blick auf die moderne
Multimedia-Welt und ihre technischen Selbstorganisationsmöglichkeiten, eine
Kunst ohne Künstler proklamiert wird? Ist die Zukunft der Information die
Information selbst, die Informationsgesellschaft nur ein Übergangsphänomen, bis
die Informationswelt am Ende auch die Menschenwelt ersetzt?
Gottlob ist das wohl eher Science Fiction als ein realistischer Blick in eine
neue Welt, die auch ohne Köpfe auskommen würde und deren sinnlicher Gehalt sich
auf die Erfahrungen von Virtual Reality reduzierte. Doch hüten wir uns davor,
daß uns die neue Informationswelt in Verbindung mit nachlassender Urteilskraft
auch in der Wissenschaft in eine neue, keineswegs nur mit bibliothekarischen
Maßen gemessene Unmündigkeit führt.